„Es ist ein hochdramatischer Stoff, und trotzdem ein Märchen. Aber es hat mich weniger das Märchen interessiert als der Bezug zum Hier und Jetzt“ philosophiert Mario Schröder, Choreograph des Leipziger Balletts.
Die Modernität seiner Inszenierung im Kontrast zu üblichen, klassischen Aufführungen des Werks stellt diesen Bezug in den Mittelpunkt. „Jeder kennt die historischen Bilder, die Revue-Reihe der Schwäne, es gibt dort immer die gleichen drei Armstellungen. Interessant wird es dann, wenn man sich einen Schwan anschaut und mit einem Menschen vergleicht.“
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Tanz im goldenen Käfig
Erzählt und nachgespürt wird die Geschichte eines jungen Menschen, der versucht sich zu emanzipieren, um ein freies und selbstbestimmtes Leben zu führen. Zur Unterdrückung seiner freien Persönlichkeitsentwicklung gehört auch das Anerziehen einer traditionellen Geschlechterrolle, die man in der Gesellschaft zu erfüllen hat.
Die Flucht führt ihn in seine Fantasie – in die Natur, die Freiheit, die Wildnis. Beglückend – ja erfüllende Erlebnisse, in denen er sich erstmals entfalten und sein kann, wie er möchte. Seine Identifikation mit dem Schwan lässt ihn mit diesem verschmelzen. Ein Traum – der seiner Notwendigkeit nach – ein jähes Ende findet.
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Fragile Undurchdringlichkeit der Seele
Von Männlichkeitsritualen und gesellschaftlicher Balz abgeschreckt, tritt der schwarze Schwan als eine Art alter Ego auf. Er ist entgegen vieler Interpretationen positiv besetzt und repräsentiert einen Gegenpol zur gesellschaftlichen und politischen Wirkmacht. Im Stück von einer Frau inszeniert, bringt die Verführung ihresgleichen die moderne Interpretation des Schwanensees auf ein neues Level.
Mentalität, Sensibilität und Filigranität münden in einer sehnsüchtigen Bewunderung – die in ihrer körperlichen Anziehungskraft aufbegehrt. Eine utopische Illusion der Freiheit, die traumatisch zerstört wird. Zurück bleibt der Wunsch nach Autonomie, Inspiration und Kraft. Kraft, sich von allen Vorbildern und Wunschfiguren zu befreien und auf den Weg zu machen, dieses Leben zu verlassen.
„Gedulde dich, stilles hoffendes Herz! Was dir im Leben versagt ist, weil du es nicht ertragen könntest, gibt dir der Augenblick deines Todes.“
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Vom Tanzen eines Tanzes.
Jede Aufführung erfindet die Wahrheit des Werkes immer aufs Neue. Sie ist Deutung. Sie ist nie zuvor festgelegt. Was das Publikum wahrnimmt, ist das Hochgefühl der Identifikation. Der Zuschauer erlebt den Tanz mittels einer Person, über die immer ein Teil ihrer Selbst in die Interpretation einfließt. Nie ist sie neutrales Gefäß für das Genie des Autors. Die lebendigste Ausdruckskraft entfaltet ein Werk, wenn ein Tänzer den Tanz respektiert und sich gleichzeitig nicht scheut, das Werk mit eigener visionärer Kraft herauszufordern. Wenn beides miteinander verschmilzt, dann tritt das Werk hervor als die Verkörperung einer neuen, hellen Wahrheit.
Wie kein anderes Werk gilt »Schwanensee« zur Musik Pjotr Iljitsch Tschaikowskis seit seiner Uraufführung 1877 als Inbegriff der europäischen Tanztradition. Trotzdem verfällt das Leipziger Ballett wenig alten Mustern, sondern schafft ein modernes, zeitgemäßes Kunstwerk mit Tiefe.
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„Indem der heutige Zuschauer das Werk als Ganzes sieht, akzeptiert er eine revidierte Fassung und sieht oftmals in der dadurch erreichten Frische ihre eigentliche Attraktion“ beschreibt Selma Jeanne Cohen das Potential moderner Inszenierungen. „Eine neu gefasste Variation für die Ballerina kann [… ] unsere Aufmerksamkeit auf verborgene Werte lenken, für die wir durch Zeit und übergroße Vertrautheit blind geworden waren.“
Die Modernität der Interpretation reicht vom Kostümdesign, über den pompösen Einsatz von Spiegelungen bis hin zu Visuals, die das Geschehen der Bühne spannungsreich untermalen. Eine Prise Provokation, ein Quäntchen Humor und sehr viel Liebe zum Detail – et voilà: damit trifft das Leipziger Ballett auch bei jungen Kulturinteressierten mitten ins Schwarze.
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Fazit:
Vielleicht bin ich die Konservative unter den Modernen. An einigen Stellen der Aufführung hätte ich es mir ein Stück klassischer gewünscht. Nach dem sehr modernen Auftakt des ersten Aktes (besonders in Punkto Kostümdesign), schloss sich jedoch in Akt 2 direkt meine Idealvorstellung einer in jeder Hinsicht mitreißenden Performance an.
Mit dem Einsetzen des weltbekannten Themes, der imposant ausgeleuchteten Kulisse und der traumwandlerischen Choreo – genau mein Ding – und ein bisschen …. zum Dahinschmelzen.
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Wann? Wie? Wo?
Schwanensee
Leipziger Ballett
Oper Leipzig
Alle Bildrechte: Ida Zenna/Oper Leipzig